Home   Zeitzonen   Sommerzeit   Erste Zeitumstellung der Geschichte

Erste Zeitumstellung war nicht in Deutschland

Vor gut hundert Jahren wurden im Deutschen Kaiserreich und in Österreich-Ungarn die Uhren erstmals auf Sommerzeit gestellt. Die erste Zeitumstellung der Geschichte fand jedoch überhaupt nicht in Europa statt. Die wahren Sommerzeit-Pioniere waren ein Neuseeländer, ein Engländer – und ein paar Hundert Kanadier.

Illustration

Gesetzestext im Reichsgesetzblatt 1916.

Am 7. April 1916 erschien im deutschen Reichsgesetzblatt folgende Mitteilung: “Der 1. Mai 1916 beginnt am 30. April 1916 nachmittags 11 Uhr nach der gegenwärtigen Zeitrechnung.”

Granaten statt Lampen

Zwei Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren im Deutschen Kaiserreich die Energieträger knapp geworden. Rüstungsindustrie und Bevölkerung gierten nach Paraffin, Petroleum und Kohle. Durch die im Eilverfahren verordnete Zeitumstellung sollte das Tageslicht maximal ausgenutzt, die wertvollen Rohstoffe zur Herstellung von Granaten statt für die Beleuchtung der Straßen eingesetzt werden.

So drehte man in der Nacht zum 1. Mai 1916 im gesamten Deutschen Kaiserreich und im verbündeten Österreich-Ungarn an den Uhren. Die erste flächendeckend koordinierte Zeitumstellung der Welt ging in die Geschichte ein.

Was in den vielen Berichten zur Geschichte der Sommerzeit bisher unerwähnt blieb: Die erste Zeitumstellung fand weder während des Ersten Weltkriegs statt – noch in Europa. Unsere Recherchen verorten die wahren Sommerzeit-Pioniere jenseits des Atlantiks, in einer Kleinstadt in der kanadischen Provinz Ontario.

Die Verschwendung des Tageslichts

In Port Arthur, heute Teil der Stadt Thunder Bay, lebten zur Jahrhundertwende nur ein paar Hundert Einwohner. Aus dem fernen England hörte man von den Bemühungen eines Bauarbeiters namens William Willett, sein Parlament von einer Idee zu überzeugen, für die ihn zu Lebzeiten viele belächelten.

Basierend auf einem Vorschlag des Neuseeländers George Hudson aus dem Jahr 1895 wollte Willett die Uhren im Königreich an vier aufeinanderfolgenden Sonntagen im April um jeweils 20 Minuten nach vorne drehen, um sie im September nach demselben Muster wieder zurückzustellen. Die Idee beschrieb er 1907 in einem Pamphlet mit dem Titel The Waste of Daylight, Die Verschwendung des Tageslichts.

Willett starb 1915, ein Jahr vor der ersten Zeitumstellung in Großbritannien.

Die wahren Sommerzeit-Pioniere

Thunder Bay in Ontario, Kanada

Thunder Bay: Weltweit erste Zeitumstellung.

©iStockphoto.com/raigna

Ein Exemplar des Pamphlets mag den Stadtoberen von Port Arthur in die Hände gefallen sein, denn ein Jahr nach der Veröffentlichung entschied man sich für ein Experiment: “In den beiden Sommermonaten”, so ist im Jahr 1908 im Toronto Star zu lesen, sollen die Uhren in Port Arthur um eine Stunde nach vorne gestellt werden. Aus späteren Ausgaben der Tageszeitung geht hervor, dass die Monate Juli und August gemeint waren.

Die erste Zeitumstellung der Welt muss also auf Mitternacht zum 1. Juli 1908 datiert werden – fast acht Jahre vor der ersten Sommerzeitperiode im deutschen Kaiserreich. Es darf bezweifelt werden, dass sich die Bewohner von Port Arthur über diese Signifikanz im Klaren waren.

Für immer Sommerzeit

Fest steht, dass die Maßnahme dort auf große Gegenliebe gestoßen ist: Bereits im nächsten Jahr wurde beschlossen, die Sommerzeit fortan ganzjährig zu befolgen. 1909 wechselte Port Arthur von der Central Standard Time (CST) zur Eastern Standard Time (EST). Bis heute befolgt Thunder Bay diese “permanente Sommerzeit”.

Auch andere Städte in Kanada experimentierten lange vor Deutschland und Österreich mit der Sommerzeit: Fort William 1910, Orillia 1912, Regina 1914. Es sollte bis 1966 dauern, bis in den USA und Kanada eine einheitliche Regelung zur Zeitumstellung verabschiedet wurde.

Kriege und Krisen bringen Sommerzeit

Ob die Einführung der Sommerzeit 1916 im deutschen Reich den Verlauf des Krieges beeinflusst hat, ist zweifelhaft. Sie wurde prompt nach Ende des Ersten Weltkrieges wieder abgeschafft – um während des Zweiten Weltkrieges durch die Nationalsozialisten wieder eingeführt zu werden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es keine einheitliche Regelung zur Zeitumstellung in Deutschland, da diese von den vier Besatzungsmächten unabhängig voneinander bestimmt wurden. So unterschied sich etwa im Jahr 1945 die Uhrzeit in der sowjetischen Besatzungszone zeitweise um eine Stunde von der Ortszeit in anderen Regionen, nachdem dort vorübergehend die doppelte Sommerzeit (“Hochsommerzeit”) eingeführt wurde, die sich um zwei Stunden von der Normalzeit abhob.

In den folgenden drei Jahrzehnten gab es weder in Deutschland, Österreich, noch in der Schweiz Zeitumstellungen, erst 1979 drehte Österreich als erstes der drei Länder wieder an der Uhr. Bereits 1977 hatten viele europäische Länder die Zeitumstellung wieder eingeführt – als energiepolitische Reaktion auf die Ölkrise von 1973. Die Bundesrepublik und die DDR folgten dem Vorstoß im Jahre 1980, die Schweiz und Liechtenstein erst 1981.

So begeistert wie die Einwohner von Port Arthur nach der weltweit ersten Sommerzeitperiode sind hierzulande freichlich nicht mehr viele. Kritiker machen die Zeitumstellung für erhöhte Unfallraten verantwortlich und weisen auf die Gesundheitsrisiken des “Mini-Jetlags” hin. Und ob die Maßnahme tatsächlich Energie spart – darüber streitet man auch 100 Jahre nach ihrer Einführung noch.

Themen: Deutschland, Europa, Geschichte, Österreich, Schweiz, Sommerzeit, Zeitumstellung, Fun Facts